Die androgynen japanischen Jungs mit den kunstvoll arrangierten Frisuren und den geschminkten Augenlidern schlurfen langsam durch das Cafe, vorbei an der Kuckucksuhr und der angedeuteten Fachwerkskonstruktion. Ihre dünnen Körper stecken in schwarz-braun karierten Fantasie-Schuluniformen. Einer spielt am Klavier Stücke von Bach, andere servieren Schwarzwälder Kirschtorte und Brühwürstchen. Willkommen im Cafe Edelstein, Tokios erstem Schuljungen-Cafe oder besser gesagt: Gymnasium-Cafe, wie es die Erfinderin Emiko Sakamaki nennt. Die neueste Variante in Japans Themencafe-Szene ist eine skurrile Mischung aus German Gemütlichkeit, Schuljungenspiel und der Fantasiewelt der japanischen Manga. Die Kellner im Cafe Edelstein geben vor, Schüler eines deutschen Jungen-Internats zu sein. Natürlich kommen die jungen Knaben in dieser Fiktion alle aus reichen Familien und werden später einmal eine Eliteuniversität besuchen. Bis es soweit ist müssen sie allerdings im Aufenthaltsraum den formvollendeten gesellschaftlichen Umgang üben, indem sie die Gäste bedienen. Der Gesellschaftsraum des deutschen Internats, das ist das Cafe Edelstein und damit die Gäste auch wirklich in diese Fantasiewelt eintauchen können, wurde das Cafe so eingerichtet wie sich Japaner vermutlich Schloss Salem vorstellen: Unter der Decke hängen schwere Holzbalken, die Gäste sitzen auf antiken Schulbänken und im hölzernen Bücherregal steht die japanische Ausgabe von Michael Endes Roman „Momo“. Feinsäuberlich hat jemand daneben eine Flasche Liebfrauenmilch und das Neue Testament platziert.
Die Idee für das Themencafe kam der Erfinderin Emiko Sakamaki als sie den Manga „Tomas’ Herz“ las. Die japanische Zeichnerin Moto Hagio erzählt darin die Geschichte des deutschen Internatsschülers Toma Werner, der sich in seinen Mitschüler Juri verliebt und aus Verzweiflung über die unbeantwortete homosexuelle Liebe Selbstmord begeht. Der Manga wurde bereits in den siebziger Jahren veröffentlicht, ist aber unter jungen Japanerinnen immer noch sehr beliebt. Dass gezeichnete Geschichten als Vorlage für Themencafes herhalten, ist nicht neu. In Tokio gibt es unzählige Cafes, in denen junge Frauen sich kleiden, wie die Helden berühmter Mangas und die männlichen Kunden bedienen. Mit dem Edelstein hat jetzt allerdings eines der ersten Cafes in Japan geöffnet, in dem die Rollen umgekehrt verteilt sind: Die jungen, androgynen Kellner sollen die Fantasien der weiblichen Mangafans verkörpern. Mit ihren femininen schmalen Gesichtszügen, den sorgfältig manikürten Händen, den Schuluniformen und der adrett gebundenen grünen Schleife um den Hals sehen die Kellner daher so sensibel und zerbrechlich aus, wie die Helden des Mangas „Tomas’ Herz“. Leise flüstern sie den Japanerinnen unverbindliche Sätze ins Ohr und benutzen dabei ein so höfliches Japanisch, wie man es sonst wohl nur im Kaiserpalast zu hören bekommt.
Redet ein Schüler mal zu laut, greift der Lehrer ein. Der ist zwar genauso alt wie seine Schüler und hat sein Haar ebenfalls kunstvoll arrangiert. Statt einer Schuluniform trägt er aber einen schwarzen Anzug. Dazu hat er sich ein schweres rotes Klassenbuch unter den Arm geklemmt. Gemeinsam verbeugen sich dann der ungezogene Schuljunge und der merkwürdige Lehrer vor den jungen Damen und bitten umständlich um Entschuldigung für die Ruhestörung. „Unsere Gäste wollen keine harten Machos. Sie fühlen sich von schüchternen, stillen und fragilen Jungs angezogen“, erklärt die 27-jährige Geschäftsführerin Emiko Sakamaki ihre sorgfältig komponierte Scheinwelt. Auch die nachgestellte Kulisse eines deutschen Internats sei perfekt für die Flucht aus dem Alltag, sagt Sakamaki. Schließlich würden Fachwerk, Holzstühle und Kuckucksuhr auf junge Japanerinnen so irreal wirken, dass es ihnen leicht falle, in einer solchen Umgebung Träume auszuleben. Welche Rolle die Besucherinnen in der Fantasieschule spielen, dürfen sie selber entscheiden: Entweder kommen sie als Schülerinnen eines benachbarten Mädchen-Internats, als Verwandte oder als Mitglieder des Fördervereins. Die drei jungen Japanerinnen, die an diesem Wochenende im Edelstein sitzen, haben sich für die Rolle als Schülerinnen entschieden. Sie sind zwischen 20 und 30 Jahren alt und tragen etwas konservativere Kleidung als viele andere Japanerinnen in ihrem Alter. Ob sie denn am Wochenende ihr Mädchen-Internat verlassen hätte und zu den Eltern gefahren sei, erkundigt sich der Kellner. Der Angesprochenen versagt die Stimme, unruhig rutscht sie auf der Schulbank herum, ihre Freundinnen kichern hinter vorgehaltener Hand. Die Gäste im Cafe seien halt sehr schüchtern und würden lieber die Jungs reden lassen, erklärt der Schüler, der sich als Yuta Asami vorstellt. Den Namen trägt er nur im Cafe, seinen richtigen Namen will er nicht verraten. Er sei 16 Jahre alt, gehe in die zwölfte Klasse des Internats, spiele Schlagzeug in einer Brass Band und sei gut im Kunstunterricht. Auch das ist Teil seiner Rolle. Jeder Kellner hat ein anderes Profil, andere Hobbys und Interessen, die er auf Nachfrage den Kundinnen erzählt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen