“Vor sechs Jahren habe ich mit dem Tanzen angefangen”, sagt mein Tischnachbar, springt auf und zieht seine Frau aufs Parkett. Vor sechs Jahren. Wie alt mag er da wohl gewesen sein? Vermutlich um die 70. Auch Sanaes Mutter wirbelt an diesem Sonntagabend über die Tanzfläche und ist mit Abstand eine der Jüngsten. Seit drei Jahren nimmt sie Unterricht. Einmal im Jahr trifft sie sich mit einigen anderen Rentner-Travoltas, um das Erlernte vorzuführen. In kurzen, hautengen Kleidern schieben sich die Teilnehmer dann über die Tanzfläche. Anmutig wie eine Gehhilfe. Heißblütig wie eine Rheumadecke. Aber mit der Lebensfreude und dem Ehrgeiz von Teenagern.
Ach Japan, deine Senioren. Wie viele westliche Kamerateams und Journalisten sind schon durch dieses Land gereist, um das Geheimnis der langen Lebenserwartung zu lüften. Fündig geworden sind sie meist in Japans Küchen: Fisch, Tofu, Gemüse – der gesunden Ernährung habe Japan seine rüstigen Rentner zu verdanken, erzählen sie uns im Westen. Das mag zu einem guten Teil stimmen. Hinzu kommt aber die Lebenseinstellung: Japans Senioren haben schlichtweg keine Zeit, zu sterben. Immer stehen Termine an: die nächste Ikebana-Klasse, die Verabredung im Kimono-Cafe, das Treffen mit den alten Freunden von der Universität. Auch Ausflüge stehen hoch im Kurs. Durch Tokios Bahnhöfe fahren ständig elegante Sonderzüge, die Massen von Rentnern in die Onsen von Hakone oder Atami karren.
Mitten in der Tanzparty strauchelt eine Kellnerin, stolpert vorwärts und ergibt sich schließlich der Schwerkraft. Ein Dutzend Teller kracht lautstark auf den Boden. Die Rentner schauen die verzweifelte Kellnerin milde an: Sie ist ja noch jung, nicht mal 40 Jahre alt. Sie wird es auch noch lernen.
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