Zu den schönsten Momenten im Zug zählte die Fahrt um den Baikalsee. Wir hatten den Wecker am Abend zuvor auf 7 Uhr gestellt. Am Morgen musste ich meine gesamte Disziplin aufwenden, um tatsächlich aufzustehen - aber es hat sich gelohnt: Als ich den Vorhang unseres Abteils hochzog fuhr der Zug einen Berg hinunter, um eine scharfe Kurve und dann lag der See direkt neben uns. Über dem See ging gerade die Sonne auf, an den Ufern schwammen kleine Eisschollen und verzeinzelt ruderten Fischer in kleinen Booten auf den See hinaus. Auf der anderen Seite der Gleise standen bunte Holzhäuser hinter denen sich hohe schneebedeckte Berge auftürmten. In den vier Stunden am Baikalsee habe ich ungefähr 100 Bilder gemacht. Die sehen zwar alle gleich aus, aber die Menge zeigt zumindest wie begeistert ich war.
Im Zug fuhren einige Mongolen mit. Einer war besonders lebendig. In blau-weißen Pyjamahosen und ausgelatschten Sandalen marschierte er über jeden Bahnhof und plauderte dabei mit anderen Passagieren. Am zweiten Tag war ich an der Reihe. “Hello, I am from Mongolia”, stellte er sich vor und wollte wissen, wo ich herkomme. “Ah, Germany”, stellte er routiniert fest, “dann bist also nur zum Urlaub in Europa?” Ich fürchte bei der mongolischen Ausgabe von “Wer wird Millionär?” wird er mit seinen Erdkunde-Kenntnissen schon recht früh scheitern. Dafür hatte er aber andere Talente: Kurz vor der russisch-mongolischen Grenze schleppte er riesige Pakete durch den Zug. Wenige Minuten nachdem wir die Grenze hinter uns gelassen hatten, schleppte er die gleichen Pakete mit einem breiten Grinsen im Gesicht wieder zurück.
Die Tage auf der Transsib waren sehr entspannend. Schon kurz nach der Abfahrt kehrte eine innere Ruhe ein, weil wir wussten, dass wir jetzt 6 Tage nichts anderes machen konnten als rumsitzen, essen, lesen und schlafen. Seltsamerweise wurde es nie langweilig. Wir sind meist so gegen 9 oder 10 Uhr aufgewacht, haben Tee getrunken und Knäckebrot gegessen, dabei ein wenig aus dem Fenster gesehen und Fotos gemacht. Dann haben wir gelesen, uns unterhalten, Tütensuppen warm gemacht, geduscht, wieder gelesen und am Abend sind wir dann in den Speisewagen gegegangen. Zu den täglichen Höhepunkten zählten die Stopps an den Bahnhöfen. Wir sind jedesmal ausgestiegen, um etwas Bewegung zu bekommen. Den schönsten und saubersten Bahnhof hatte Krasnojarsk, wo irgendein Milliardär Gouverneur ist.
Überhaupt war Ulan Bator eine sehr merkwürdige Stadt. Die Erfindung der Plastiktüte hat Ulan Bator nicht gut getan. Überall flogen Plastikbeutel in allen erdenklichen Farben umher. Wenn man in Ulan Bator mal während seines Einkaufs die Tasche vergessen hat, muss man wahrscheinlich nur auf der Straße den Arm ausstrecken und - zack - hat man schon drei Plastiktüten in der Hand. Auch das Stadtbild von Ulan Bator dürfte einzigartig sein. Neben unzähligen sozialistischen Plattenbauten stehen überall verstreut traditionelle Jurten und daneben völlig heruntergekommene Fabriken. Die Fahrt durch das Land hat uns dann aber wieder entschädigt.
Bizarr war der chinesische Grenzort Erlian an der Grenze zur Mongolei. Als wir ankamen war es draußen schon dunkel, aber der gesamte Bahnhof war von Scheinwerfern in helles Oranges Licht getaucht. Es roch unerträglich nach Schwefel und aus den Lautsprechern tönte die chinesische Nationalhymne. Dann erklang eine Frauenstimme vom Band: “Hello. Welcome to China. How do you do?” Nach dieser sehr persönlichen kleinen Ansprache spielte der DJ “Für Elise”, dann Rod Stewards “Sailing” und zum Schluss die Titelmusik von Titanic.
Nachdem die Grenzbeamten die Pässe eingesammelt hatten, stürmten sämtliche Passagiere in den einzigen winzig kleinen Supermarkt im Bahnhof, wo man in sämtlichen Währungen der Welt bezahlen konnten. (Vermutlich wurden selbst die Talermünzen des historischen Weihnachtsmarktes angenommen.) Allerdings tippte die Kassiererin die Beträge nicht in die Kasse, sondern schätzte den Wert. Unsere Chips, die aussahen wie Pringles, aber keine waren, sowie zwei Packungen Kekse wurden mit einem kurzen Blick auf zwei Dollar taxiert. Dann rasten alle wieder wie vom Affen gebissen zurück in den Zug, der nun eine kleine Ewigkeit lang hin und her rangiert wurde, damit die Räder auf die chinesische Spurbreite umgestellt werden konnten.
Während des Rangierens tauchten einige Wagons unseres Zuges plötzlich neben unserem Wagon auf, was besonders diejenigen Passagiere erstaunte, die gerade ins Bett gehen wollten und nun in der Unterhose vor unserem Fenster standen. Nach dem Rangieren wurde der Zug hochgehoben und neue Räder drunter montiert. An den Wänden der Montagehalle hatte jemand sehr schöne kommunistische Parolen gemalt - etwa: “Arbeitet zusammen zum Wohl des Volkes”. Im realsozialistischen China ging es dann aber genau so zu wie auf realsozialmarktwirtschaftlichen deutschen Baustellen: Einer arbeitete und der Rest schaute zu. Nach geschlagenen sechs Stunden war das Prozedere beendet und wir waren froh, aus der schwefelhaltigen Luft raus zu kommen.
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